Wie es meinem Opa erging, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Auf dem Hof wurden Flüchtlinge einquartiert. In jedem Raum wohnte eine andere Familie. Es gibt einen Schriftwechsel mit dem Amt in Freienohl, in dem mein Uropa darauf besteht, dass sofort ein Raum frei gemacht werden müsse, sollte sein Sohn (also unser Opa) zurückkehren.
Russische Gefangenschaft
Während im überfüllten Dorf die Häuser wieder aufgebaut und die Felder bearbeitet wurden, befand sich mein Opa in russischer Kriegsgefangenschaft. Er hat dort gefroren, gehungert und Zwangsarbeiten geleistet. Ich weiß nicht viel über seine Zeit in Russland, doch hat es ihm wohl geholfen, dass er klein und drahtig war.
Mit einem Kameraden gemeinsam ist ihm die Flucht gelungen. Zusammen haben sie sich bis Bayern durchgeschlagen. Dort wurden sie von der amerikanischen Besatzung aufgegriffen und - kann es eine schlimmere Vorstellung geben? - zurück nach Russland gebracht.
Der letzte Heimkehrer in Meinkenbracht
Am Samstag, den 3. Juli 1949 - 4 Jahre nach Kriegsende - kam unser Opa schließlich nach Meinkenbracht zurück. Niemand hatte mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Er war der letzte Meinkenbrachter, der zurückkehrte. Bei seiner Ankunft standen die Dorfbewohner Spalier und läuteten die Kirchenglocken.
Kein Schlafplatz
Der Hof, der Opa bereits seit 1941 gehörte und den unser Uropa weiter bewirtschaftet hatte, war überfüllt. 4 Jahre nach Kriegsende war immer noch jeder Raum mit Flüchtlingen belegt. In seinem eigenen Haus, gab es kein freies Zimmer für ihn. Das Amt in Freienohl verstand das Problem nicht: Er könne doch auf dem Badezimmer schlafen...
Über mehrere Monate zog sich der Schriftwechsel mit den Freienohler Beamten.
Wie es meinem Opa in dieser Zeit seelisch erging, können wir nicht einmal erahnen. Die Grauen des Krieges verursachten ihm jahrelang Alpträume - vielleicht jahrzehntelang. Die Kriegserlebnisse waren ein Tabu-Thema. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen.
Bei seiner Rückkehr war Opa 35 Jahre alt. Der Krieg hatte ihm seine ganze Jugend, sicher zahlreiche Kameraden und einen Bruder genommen.
Was uns bis heute prägt
Was uns heute immer noch prägt, ist der Hunger, den Opa erlitten hat. Lebensmittelverschwendung brachte ihn auf die Palme. Faulendes Obst wurde von braunen Stellen befreit und dann gegessen. Essensreste wurden am nächsten Tag verzehrt, auch hartes Brot oder Gerichte, die man nur schlecht aufwärmen kann. Neue Kleidung und neue Schuhe brauchte er nicht. Er war genügsam, stellte keine Ansprüche. In Zeiten von Nachhaltigkeitsdiskussionen können wir uns daran ein Beispiel nehmen.
Als ich 25 Jahre alt wurde, war mir sehr bewusst, dass für meinen Opa in diesem Alter die Jugend endete. Für die folenden 10 Jahre konnte er keine freie Entscheidung treffen und geriet von einem Grauen in das nächste. Wie lang so ein 10-Jahreszeitraum ist, machte ich mir bewusst, bis ich 35 wurde. Und ich danke Gott, dass ich in Frieden und Freiheit leben darf und ein selbstbestimmtes Leben führen kann!
Weitere Informationen
Weitere Infos zum Kriegsgeschehen in Meinkenbracht finden Sie
hier.
Gegen das Vergessen
All dies haben wir aufgeschrieben, um zu zeigen, dass der Krieg an niemandem vorbei geht. Selbst die kleinsten Dörfer im Sauerland waren betroffen. Darum ist es so wichtig, dass wir daraus lernen und unsere Kinder Toleranz und Respekt gegenüber jedem Menschen, jeder Religion, jeder Nationalität lehren. Damit wir miteinander in Frieden und Freiheit leben können.